Logo der Apotheken Umschau

Stellen Sie sich vor, Sie könnten im Gesicht Ihres Gegenübers nicht erkennen, ob die Person Ihnen freundlich gesonnen ist, ob sie wütend ist oder traurig. Stellen Sie sich vor, es würde Sie Überwindung kosten, anderen in die Augen zu schauen. Für viele Menschen mit Autismus ist das normal. Er äußert sich individuell unterschiedlich, manche Betroffene sind schwerbehindert, andere gelten als begnadete Erfinder (Elon Musk), für manche ist Autismus eine andere Art, die Welt zu begreifen, und „unter manchen Umständen eine Superkraft“ (Greta Thunberg).

Menschen mit Autismus fällt das Deuten von Gefühlen schwer

Fest steht: Das Gehirn von Menschen mit Autismus tickt anders. „Betroffene haben kein intuitives Verständnis für zwischenmenschliche Beziehungen“, sagt Dr. Tanja Richter-Schmidinger. Die Psychologin leitet an der Uniklinik Erlangen eine Autismus-Sprechstunde für Erwachsene. „Autistische Menschen können Gefühle oft nicht lesen und soziale Codes und nonverbale Signale wie Mimik und Gestik schwer deuten.“ Doch diese Fähigkeiten braucht man, um Beziehungen zu knüpfen. Sich verlieben, ­eine Partnerschaft führen – im Leben von autistischen Menschen ist das eine große Herausforderung. Daniel Saunders und Karina (Nachname ist der Redaktion bekannt) leben beide mit Autismus. Der Apotheken Umschau haben sie Einblicke in ihr Suchen und Finden der Liebe gegeben.

Autistische Menschen können Gefühle oft nicht lesen und soziale Codes und nonverbale Signale wie Mimik und Gestik schwer deuten

Auf der Suche nach der großen Liebe

„Gamer-Geek, der gern zu Gothic und Metal im Club abtanzt und mit der Herausforderung Autismus leben lernt, jeden Tag neu. Speziell, bisweilen anstrengend, aber auch innig, liebevoll zugewandt, loyal und selten langweilig.“

Diesen Text veröffentlichte Daniel Saunders, 46, im Herbst 2023 auf einer führenden Dating-Plattform. Kurz darauf ein Treffer. „Ich habe ihr Profil gesehen und sofort gedacht: Wow, ich will sie kennenlernen!“, erzählt er. Beide mögen Gaming und Tanzen, beide spielen seit Jahren ein nur unter Kennern bekanntes Brettspiel. Beide drücken die Stopptaste, wenn jemand beim Seriegucken dazwischenquatscht.

Der IT-Experte aus Frankfurt traf sich mit der 48-Jährigen, die wir hier Silke nennen. Auf das erste Date folgte ein zweites, schnell kamen sich die beiden nah. Mit der Nähe wuchsen die Missverständnisse. Nach wenigen Wochen kam es zum großen Streit. Es ging um Sex. „Für mich ist Sex ein Hobby wie Tanzen, etwas, das ich mit anderen mache und das Spaß macht“, sagt Saunders. „Sie bot mir an, dass ich auch mit anderen Frauen Sex haben könnte.“ Was er auch tat und was bei Silke doch nicht gut ankam.

Mädchen schaut traurig

Phänomen Autismus

Die Diagnose kann heute schon im Kleinkindalter gestellt werden. Zumindest in der Theorie. In der Praxis dauert es oft Jahre, bis Kinder Hilfe erhalten. Experten erklären, worauf es ankommt zum Artikel

„Ich kann nicht verstehen, wenn jemand etwas anderes sagt, als er meint“, erklärt Saunders. Man merkt ihm an, wie sehr ihn die Sache mitnimmt: „Ich bin 46 Jahre alt und das erste Mal in meinem Leben verliebt. Ich finde es abscheulich. Jetzt habe ich Liebeskummer, und das hasse ich noch mehr.“ Rückblick: Seit zwei Tagen herrscht Funkstille. Er wird am Abend noch bei Silke vorbeischauen, sie wollen reden – über Missverständnisse, falsche Erwartungen, verletzte Gefühle: „Das Letzte, was ich will, ist ihr wehtun. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich meine Maske vom Gesicht nehme, dass ich mich anderen so zeige, wie ich bin.“

Autisten müssen soziale Regeln mühevoll einstudieren

Masking nennt man die Anpassung, die autistische Menschen leisten müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Im Grunde bedeutet es, als autis­tischer Mensch so zu tun, als ob man neurotypisch sei, also so wie alle anderen. So­ziale Regeln und Signale, die bei neuro­typischen Menschen intuitiv ablaufen, müssen Autisten mühevoll einstudieren. „Ich habe soziale Fähigkeiten erst in meinen Zwanzigern gelernt“, sagt Saunders. Durch ein Rollenspiel mit blutrünstigen Vampiren.

„Im Spiel mit anderen habe ich geübt, mit Leuten umzugehen, zu erkennen, was sie von mir wollen, wie ich auftreten muss, um etwas zu erreichen.“ Die Strategien machtsüchtiger Vampire habe er zwar in seinen Dreißigern abgelegt, aber ein ungünstiges Rollenvorbild in Sachen Liebe sei das dennoch gewesen: „Ich war hochmanipulativ, habe versucht, mich in eine Position zu bringen, in der ich anderen überlegen bin. Dann habe ich mich sicher gefühlt.“

Der Weg zum eigenen Ich

Karina, 54, hat ihre Maske vor etwa zehn Jahren abgelegt. Bis dahin war sie verheiratet, arbeitete als Pflegefachkraft und lebte mit Mann, Sohn, heute 11, und Tochter, 22, in Baden-Württemberg: „Ich bekam mein Leben auf die Reihe. Aber mich ständig zu maskieren, kostete mich extrem viel Kraft, ich habe das einfach nicht mehr gepackt.“ Nach einem Zusammenbruch ließ Karina sich in einer psychiatrischen Klinik untersuchen. Sie erhielt die Diagnose hochfunk­tionaler Autismus: „Der Psychiater sagte mir, ich müsse aufhören, so zu leben wie bisher, sonst würde ich daran zerbrechen.“

Sie überlegte das erste Mal in ihrem Leben, was sie braucht, damit es ihr gut geht: „Bis dahin war es für mich normal, dass es mir immer irgendwie schlecht geht.“ Als Karina anfing, tatsächlich auf ihre Bedürfnisse zu achten, zerbrach ihre Familienwelt. Es war der Beginn einer großen Lebenskrise und ein Anfang, sich selbst kennenzulernen. „Ich habe gemerkt, dass ich auf Frauen stehe. Also im Nachhinein gesehen, war das schon irgendwie immer klar.“ Karina fing an zu daten. 2020 erstellt sie ein Profil bei dem Dating-Portal gleichklang.de.

Dating für Menschen mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen

Die digitale Plattform gleichklang.de richtet sich an Menschen, die sich ­eine längerfristige Beziehung wünschen und besondere Persönlichkeitsmerkmale mitbringen. „Manche sind hochbegabt, hochsensibel, andere autistisch oder sehbehindert“, beschreibt Dr. Guido Gebauer, Psychologe, Dating-Coach und Geschäftsführer von gleichklang.de, die diverse Zielgruppe. Zahlreiche Persönlichkeitsmerkmale wie etwa Autismus werden in ­einem Fragebogen abgefragt und fließen in den Suchalgorithmus der Plattform ein.

Studien zeigen, dass Online-Dating für Menschen mit Autismus ein guter Weg ist, um Beziehungen zu knüpfen und sich auf ein persönliches Treffen vorzubereiten. Beim Online-Austausch wären Autisten weniger überfordert mit der Kommunikation, könnten ihre Gefühle durch Emojis verständlicher machen und autistische Eigenschaften erklären, begründet etwa die US-amerikanische Autismus-Forscherin ­Dr. Carrie Leigh Mitran die Vor­züge der digitalen Dating-Kommunikation. Auch Karina wollte sich im Netz von der Liebe finden lassen. In ihrem Dating-Profil schrieb sie: „Schon immer hatte ich das Gefühl, eine Außerirdische auf diesem Planeten zu sein. In einer Beziehung wünsche ich mir Raum für uns, Raum für mich und Raum für Dich.“

„Im Spiel mit anderen habe ich geübt, mit Leuten umzugehen, zu erkennen, was sie von mir wollen, wie ich auftreten muss, um etwas zu erreichen“

Das erste Treffen

Die Autismusdiagnose sprach sie im Profil nicht direkt an. Sheila, 63, aus Rheinland-Pfalz ist nicht autistisch, aber das Gefühl, nicht dazuzugehören, kennt auch sie. Sie chattete Karina im Sommer 2020 an, beide Frauen fanden sich auf Anhieb interessant und verabredeten sich für ein Telefonat. „Deine erste Frage war, ob ich Marzipan und Rosinen gut finde“, erinnert sich Sheila. „Mochte ich.“

Karina (links) und Sheila mögen beide Dreadlocks und Marzipan. Beide finden Beige unangenehm. Karina sagt: „Das ist eine unehrliche Farbe“

Karina (links) und Sheila mögen beide Dreadlocks und Marzipan. Beide finden Beige unangenehm. Karina sagt: „Das ist eine unehrliche Farbe“

Sie verabredeten sich für ein erstes Date in Karlsruhe. Zu diesem Zeitpunkt wusste Sheila schon von Karinas ­Diagnose. „Telefonieren mit Karina war so schön. Autismus war kein Grund für mich, sie nicht treffen zu wollen“, sagt Sheila. „Wir gingen an diesem Nachmittag in einem Park spazieren und die Leute haben so komisch gelächelt, ich glaube, die haben gespürt, dass es zwischen uns mächtig funkt“, erzählt Karina und streichelt über Sheilas Arm. „Wir hatten keine Schmetterlinge im Bauch, das waren Flugdrachen.“

Der lange Weg zur Diagnose

Anders als Karina spricht Daniel Saunders in seinem Dating-Profil offen über Autismus. Die Diagnose erhielt er erst im vergangenen Jahr von einem Psychologen: „Plötzlich erfährt man als erwachsener Mann, dass man wahrscheinlich zu 50 Prozent schwerbehindert ist. Das ist schon krass. Ich weiß jetzt, was mit mir nicht stimmt, und verstehe nun viele Krisen in meinem Leben.“ Und er benötigt als Nächstes ein psychiatrisches Gutachten, um ­eine Schwerbehinderten-Einstufung und damit verbundene Hilfen zu erhalten. Die vo­raussicht­liche Wartezeit: 24 Monate.

Psychologin Richter-Schmidinger von der Uniklinik Erlangen bestätigt Saunders Erfahrung. „Wir hatten bis vor Kurzem eine Wartezeit von dreieinhalb Jahren. Doch es gab so viele Anfragen, dass vorerst ein Aufnahmestopp verhängt wurde“, beschreibt sie die derzeitige Situation. „Das ist wirklich tragisch. Viele Menschen, die zu uns kommen, sind sehr belastet. Viele scheuen Arztbesuche und kommen erst dann, wenn es um eine Einstufung für eine Schwerbehinderung geht, die Wohnung auf dem Spiel steht, der Job oder eben die Beziehung“, so die Expertin. Zudem bestehen häufig Begleiterkrankungen wie Depressionen, Ängste und ADHS und erschweren die Diagnosestellung.

Menschen mit Autismus fühlen sich oft missverstanden

Karina und Sheila verabredeten sich bald nach ihrem ersten Date wieder. Kurze Zeit später saß Sheila bei Karina in der Küche, lernte die Kinder kennen. „Plötzlich brach der Stuhl, auf dem ich saß, zusammen. Ich lag Karina buchstäblich zu Füßen, wir haben viel gelacht“, erinnert sie sich. Die Beziehung wurde schnell enger. „Karina hat Kinder, mir war klar, dass die bei ihr an erster Stelle stehen und ich darauf Rücksicht nehmen werde“, sagt Sheila.

Zumal auch Karinas Sohn Autismus hat. Die Familie wird durch Jugendamt und Kinderju­gend­hilfe begleitet. Aus Karinas Sicht lief die Zusammenarbeit lange gut. Inzwischen hat sie Angst, das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Sohn zu verlieren. „Die neue Sachbearbeiterin im Jugendamt ist der Ansicht, ich würde meinem Sohn aufgrund meiner Einschränkungen die Autonomie im Alltag verweigern und ihn daran hindern, sich zu entwickeln. Aber das stimmt nicht“, sagt Karina. „Ich fühle mich als Mutter, die ihren Sohn kennt und liebt, nicht ernst genommen und als Mensch auf die Diagnose Autismus re­duziert. Wer uns kennt, weiß, dass ich ­immer versuche, meinen Sohn zu verstehen und ihm und mir ein schönes Leben zu machen.“

Autistische Mütter und ihre Kinder

Es existieren nur wenige, kleine Studien, die das soziale Verhalten von autistischen Müttern und ihren Kindern beleuchten. Die wenigen, die es gibt, zeigen, dass autistische Mütter intuitiv auf die Bedürfnisse ihrer Kinder reagieren können. „Autis­tische Mütter begreifen ihre kleinen Kinder als Teil von sich selbst“, hat Richter-Schmidinger beobachtet. „Da gibt es auch beim Körperkontakt keine Hemmschwellen.“ Und ergänzt: „Es gibt die Vermutung in der Forschung, dass die Bindung zwischen Mutter und Kind auch über den Geruch hergestellt wird. Autistische Mütter lieben den Duft ihrer Babys.“

Kontrovers: Offen zu Autismus stehen?

Soll ich meine Autismus-Diagnose beim Dating von Anfang an offenlegen?

„Ja“, rät Psychologe und Dating-Coach Dr. Guido Gebauer aus Hannover. Studiendaten stützen diese ­Empfehlung. Eine Untersuchung des britischen Psychologen Prof. Mark Brosnan zeigt sogar, dass die Erwähnung von autistischen Merkmalen in ­Online-Profilen von männlichen Autisten bei ­weiblichen Profil­besuchern als attraktiv wahrgenommen wird. Das gilt be­sonders, wenn Merkmale wie „Ehrlichkeit“ und „Direktheit“ in den Profilen der Männer positiv eingeordnet werden und die Frauen nicht zu stigmatisierendem Verhalten neigen.

Aktuell gibt es auch eine sehr schöne Entwicklung in Sheilas und Karinas Leben. Die beiden wollen bald heiraten und irgendwann zusammenziehen. Dass Beziehungen zwischen Autisten und Menschen ohne Autismus gut funktionieren können, zeigen zahlreiche Studien. Die Zufriedenheit ist bei Paaren, in denen beide autistische Merkmale aufweisen, etwas höher, so die Ergebnisse einer Studie mit 229 Menschen mit hochfunktionalem Autismus an der Berliner Charité. Partner, die selbst autistisch sind, könnten Rückzugsphasen besser nachvollziehen, vermutet das Studien­team um die Psychologin Dr. Sandra Strunz. Damit stabile Beziehungen zwischen autis­tischen und nicht autistischen Menschen gelingen, brauche es vor allem Verständnis und ­Akzeptanz, so die Erfahrung von Autismus-Expertin Tanja Richter-Schmidinger. „Oft helfen auch klare Regeln, auf die sich der autistische Partner einstellen kann, etwa, dass es für Sexualität feste Termine gibt und Sex nicht spontan stattfindet.“

Die Liebe zwischen Daniel Saunders und Silke hatte keine Zukunft. Kurze Zeit nach dem Kennenlernen beendete die 48-Jährige die Liaison. Es gehe ihm gut, erzählt Daniel. „Es war eine Erfahrung, ich habe viel gelernt, meine Warnliste ist länger geworden. Ich habe stark auf bestimmte Warnsignale geachtet, die es gar nicht gab, und dafür andere übersehen“, sagt er rückblickend. Daniel Saunders will sich jetzt erst einmal auf sich selbst besinnen: „Ich date bestimmt ­irgendwann wieder, aber an die große Liebe ohne Maske glaube ich nicht mehr.“