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Prof. Dr. Pierre Ibisch hat Glück. Von seinem Bürofenster aus blickt er auf alte Bäume, innerhalb einer Minute ist er im Wald. Seit zwei Jahrzehnten ist er Professor für Nature Conservation an der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde bei Berlin. Redakteurin Sonja Gibis traf sich mit ihm zu einer Entdeckungstour zwischen Bäumen.

Herr Ibisch, der Wald hier grenzt direkt an Eberswalde. Gibt es so nahe der Stadt tatsächlich etwas zu entdecken?

Pierre Ibisch: Aber natürlich. Auch ich entdecke immer wieder Neues. Ich freue mich über jedes Detail, Pflanzen und darüber, wie sie sich im Laufe des Jahres verändern, Pilze, kleine Tiere. Gern würde ich auch einmal Wölfe treffen.

Hier gibt es Wölfe?

Ibisch: Ja, sie sind ungefähr gleichzeitig mit mir in Eberswalde eingetroffen (lacht). Sie kamen über die Oder und haben Brandenburg wieder etwas wilder gemacht. Bisher haben sie einen Bogen um mich gemacht, aber sie sind in der Nähe fotografiert worden. Wir werden wohl keine sehen. Klar ist, dass Schafhalter anders auf die Wölfe schauen. Da müssen wir einiges anders organisieren.

Wald

Die Kraft der Bäume

Im Waldfieber: Gute Gründe, öfter in den Wald zu gehen und das Grün auf sich wirken zu lassen. zum Artikel

Wölfe gab es in meiner Kindheit nur in Märchenwäldern. Im Wald um die Ecke dafür alles mögliche Getier, das ich toll fand. Wie war das bei Ihnen?

Ibisch: Ganz ähnlich. Für mich war die Marienhölzung in der Nähe von Flensburg wichtig. Das ist nur noch ein Fragment. Aber um Wald zu entdecken, hat es ausgereicht. Jedes Wochenende ging es mit den Eltern raus. Mir hatten es die Amphibien und Reptilien angetan. Etwas aus dem Fernsehen oder dem Lehrbuch zu kennen, ist schön. Aber wenn man es begriffen hat, im wahrsten Sinne des Wortes, ist das etwas ganz anderes. Wie etwa dieser alte Ast.

Er ist voller verschrumpelter Pilze und etwas matschig.

Ibisch: Ja, ist das nicht toll? Totholz ist voller Leben. Um es abzubauen, braucht es Pilze. Aber auch andere Mikroorganismen stecken hier drin, Billionen davon. Greifen Sie mal rein und holen Sie sich eine Handvoll Holz heraus. Es speichert eine Menge Wasser, das Sie ausdrücken können. (Es tropft.) Sie könnten dieses Wasser sogar trinken.

Waldfans von Kindheit an: Prof. Dr. Pierre Ibisch und Redakteurin Sonja Gibis.

Waldfans von Kindheit an: Prof. Dr. Pierre Ibisch und Redakteurin Sonja Gibis.

Danke, ich bin gerade nicht so durstig. Aber es riecht frisch, gar nicht faulig.

Ibisch: Weil Holz nicht einfach fault. Die Leute denken immer, das müsste aufgeräumt werden. Aber das ist kein Müll, sondern eine Investition in die Zukunft des Waldes. Der Tod hat hier eine wichtige Funktion. Er schafft nicht nur Lebensraum für viele Organismen, sondern stärkt auch das System Wald selbst. Dieses Holz speichert Wasser – im Klimawandel wichtiger denn je. Wenn man es umdreht, dann sieht man die Vielfalt, die darunter ist: Käfer, Asseln, ein Regenwurm.

Das erinnert mich an meine Kindheit: Peter Lustig in „Löwenzahn“. In der Sendung hat er so etwas auch gemacht.

Ibisch: Man muss kein Kind sein, um den Wald zu entdecken. Dazu lohnt es sich, auch mal vom Weg wegzugehen. Zum Beispiel diesen Pfad, der nicht von Menschen gemacht ist. Hier sind Tiere langgelaufen.

Der Tod hat hier eine wichtige Funktion. Er schafft nicht nur Lebensraum für viele Organismen, sondern stärkt auch das System Wald selbst

Und die erschrecken wir nicht, wenn wir uns querfeldein durchschlagen?

Ibisch: Wenn Sie hier nicht ständig in einem Trupp mit 50 Menschen durchlaufen, ist das okay. Um etwas zu entdecken, muss man die ausgetretenen Pfade auch mal verlassen.

Wenn man waldunerfahren ist: Was ist der richtige Einstiegswald?

Ibisch: Vor allem einer, der ein bisschen chaotisch ist, wo es drunter und drüber geht. Da gibt es an jeder Ecke etwas zu entdecken. In einer Monokultur, in der die Fichten oder Kiefern wie Soldaten in Reih und Glied stehen, finden Sie wenig Vielfalt. So ein gebauter Wald ist auch viel anfälliger für Extreme. Ein Wald, der sich selbst überlassen ist, besitzt dagegen eine Menge Resilienz. Schauen Sie sich dieses Beispiel von Überlebenswillen an: Dieser Baum wurde vom Sturm in der Mitte umgeknickt. Und jetzt hat er zwei neue Kronen entwickelt.

Ich habe gehört, dass Bäume im Wald andere Bäume erst mal miternähren. Stimmt das?

Ibisch: Schon, aber nicht in dem Sinne, dass der Baum sagt: Dem geht es schlecht, dem muss ich helfen. Unser Wald ist ein erfolgreiches, reifes Ökosystem. Solche Ökosysteme zeichnen sich durch ein hohes Maß an Kooperation aus. Eine Art Solidarität, die auch den einzelnen Arten hilft, dass der Lebensraum erhalten bleibt. Eine gemeinsame Evolution hat das hervorgebracht. Hier unter unseren Füßen ist alles vernetzt. Die Wurzeln der Bäume sind in Kontakt mit Pilzen – eine Verbindung, die man My­kor­rhi­za­ nennt. Hier werden Stoffe ausgetauscht, Informationen weitergegeben.

Die Leute denken, altes Holz müsste man aufräumen. Aber Totholz ist kein Müll. Es ist eine Investition in die Zukunft des Waldes

Davon habe ich gelesen. Es war die Rede vom „Wood Wide Web“.

Ibisch: Und das ist kein Gag, sondern ein Begriff aus der Wissenschaft, mit Augenzwinkern vorgeschlagen. Und hier an dem riesigen Wurzelteller einer umgefallenen Buche können Sie es zumindest erahnen. Der Regen hat das haarfeine Wurzelgeflecht ausgewaschen. Doch auch wer mit Wurzeln wenig anfangen kann: Diesen grünen, flauschigen Baumstamm fasst jeder gern an. Diese kühle Feuchte – ist das nicht herrlich?

Wären wir jetzt beim Waldbaden, würden wir wohl gebeten, uns eine Weile schweigend daran zu lehnen – und uns dann beim Baum zu bedanken. Was halten Sie von solchen Trends?

Ibisch: Was mir auf jeden Fall wichtig ist, ist das Erleben. Anfassen. Riechen. Rein, da, wo es matscht und nass ist. Eine ganzheitliche, sinnliche Erfahrung, die für Kinder so selbstverständlich ist. Das kann ich Waldbaden nennen, wie die Japaner es tun, muss ich aber nicht. Leider gibt es heute aber viele Leute, die sozusagen den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Die brauchen dann vielleicht einen Waldcoach, der sie anstupst und sagt: Hör auf das Rauschen der Blätter! Riech mal am Moos!

Waldcoaches schwärmen von der Heilkraft des Waldes.

Ibisch: Dazu gibt es viele Untersuchungen. Der Stress nimmt ab, der Blutdruck sinkt, bestimmte Immunzellen werden aktiver. Wald wirkt ganzheitlich, über Farben, Düfte, Töne, Stoffe in der Luft. Ich finde das auch nicht überraschend. Wir Menschen sind mit diesem Ökosystem seit Urzeiten verbunden. Heute müssen wir uns diesen Kontakt leider oft erst wieder mühselig erarbeiten. Für unsere Gesundheit ist diese Entkoppelung sicher nicht gut. Und auch nicht für unser Verhältnis zur Natur. Ein großes Problem.

Ein Biologe sagte mir mal: Man schützt, was man liebt. Und man kann nur lieben, was man kennt.

Ibisch: Und der Wald hat unseren Schutz leider nötig. Was es dazu braucht, sind vor allem größere Flächen, wo man ihn in Ruhe lässt. Solche Wälder sind gesünder und besser durch die extremen Jahre gekommen. Doch es gibt keine Selbstheilungsgarantie. Wenn der Klimawandel so weiterläuft, wird es eng für unseren Wald. Wenn wir nicht aufpassen, können wir ihn verlieren.