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Dienstagvormittag an einer viel befahrenen Kreuzung in der Allgäuer Stadt Sonthofen. In der Apotheke vor Ort herrscht Werktagsbetrieb: hier ein Hustensaft für die ausklingende Erkältungssaison, dort schon ein Allergiemedikament, den Blutdrucksenker bitte direkt nach dem Aufstehen einnehmen. Für einen kleinen Jungen ist heute aber absolut entscheidend, was im Untergeschoss der Apothekenräume passiert: in der Rezeptur.

Es geht eine enge Wendeltreppe hinunter: hinter gelben Metalltüren stehen Apothekerin Franziska Scharpf und ihre Mitarbeiterin Agnes Niemietz im Neonlicht. Die beiden Frauen gehen die Rezepte durch, die heute für einzelne Patientinnen und Patienten hergestellt werden. Auch das des Dreijährigen für eine Captopril-Lösung – ein blutdrucksenkendes Medikament, lebensnotwendig für den herzkranken Jungen.

Was passiert im Maschinenraum der Apotheken?

Viele Cremes, Salben und Emulsionen gegen Hautkrankheiten stellen PTA Niemietz und ihre sechs Kolleginnen hier im „Maschinenraum“ der Apotheke her, aber eben auch Arzneien für Kinder, für ältere Menschen, sogar für Tiere. Auch wenn man es angesichts der vielen Fertigarzneimittel, die Tag für Tag über Apotheken-Tresen wandern, leicht vergisst: Alles, was nicht ins Raster der Pharmaindustrie passt, muss und kann in einer Apotheke per Hand hergestellt werden.

Sei es, weil jemand einen Zusatzstoff nicht verträgt, der Wirkstoff für Kinder niedriger dosiert werden oder das Schmerzmittel in der Palliativmedizin in eine Darreichungsform verpackt werden muss, die die Patientin oder der Patient noch zu sich nehmen kann. 2021 wurden so etwa zwölf Millionen Rezepturen für gesetzlich Versicherte in Deutschland hergestellt.

Entgegen dem allgemeinen Trend werden es bei Scharpf und ihrem Team immer mehr. „Eine Durchschnittsapotheke stellt vielleicht eine Rezeptur pro Tag her, bei uns sind es oft 30 bis 40“, sagt die 39-Jährige. „Wir lieben diese Herausforderung, denn die Rezeptur ist in meinen Augen die Zukunft der Apotheke – was wir leisten, kann keine Pharmaindustrie, keine Versandapotheke, kein Drogeriemarkt übernehmen: personalisierte Medizin eben.“ Manche chronisch kranken Kinder begleitet dieses Handwerk bis ins Erwachsenenalter. Auch der kleine Junge ist hier gut bekannt: Alle vier Wochen braucht er eine neue Captopril-Lösung.

Was ist das Neue Rezeptur-Formularium?

Apothekerin Scharpf überprüft jedes Rezept. Sie haftet dafür, dass die Arznei keinen Schaden anrichtet. Hat sie schon mal ein Rezept ganz zurückgewiesen? „Nein, aber Rücksprache mit den Ärzten gibt es schon immer wieder.“ Der Blutdrucksenker für den kleinen Herzpatienten ist da unkompliziert, denn er ist eine NRF-Rezeptur. Das Neue Rezeptur-Formularium (NRF) ist so etwas wie das nationale Rezeptverzeichnis mit rund 3000 Formeln, Prüf- und Herstellungshinweisen, das halbjährlich aktualisiert wird. Rezepturen, die darin aufgeführt sind, sind gründlich geprüft. Dafür steht in Eschborn bei Frankfurt ein eigenes Labor.

Im Fall des Jungen sagt die NRF-Rezeptur: 0,2 Gramm Captopril mit 0,1 Gramm Kaliumsorbat und 0,2 Gramm Ascorbinsäure mit gereinigtem Wasser auf 100 Gramm auffüllen. Franziska Scharpf holt die Captopril-Dose aus dem gekühlten Vorratsraum: die Schatzkammer der Apotheke – mit Wirkstoffen in Dosen und Tiegeln aller Größen auf dicht bepackten Regalbrettern, Eimern mit Basis- Creme, Emulgatoren, Zäpfchen-Grundlagen, Kanistern mit Ethanol.

Sind Arzneistoffe nicht lieferbar, wie es seit vergangenem Sommer immer wieder mit Paracetamol oder Ibuprofen und aktuell mit Antibiotika wie Amoxicillin der Fall ist, müssen Fertigarzneien für individuelle Rezepturen verarbeitet werden. Dann mörsern PTAs Tabletten von Hand, um Fieber- oder Antibiotikasaft für Kinder herzustellen. Für Amoxicillin gibt es aber allerdings aktuell auch keine Tabletten mehr.

Was, wenn die Fertigarznei nicht lieferbar ist?

„Anfang des Jahres fehlten selbst Glasflaschen und Kolbenpipetten, sogar die Fettgrundlage für Zäpfchen war nicht mehr lieferbar. Da mussten die Apotheker wieder Kakaobutter verwenden wie vor 100 Jahren“, berichtet Dr. Holger Reimann, der als Leiter des Pharmazeutischen Laboratoriums über das NRF wacht. „So eine Situation hätten wir uns für ein hoch entwickeltes Industrieland wie Deutschland eigentlich nicht vorstellen können.“

Der Mangel an Fiebersäften für Kinder rückte das Problem der Lieferengpässe in die breite Öffentlichkeit. Die Gründe: Eine Welle von Atemwegserkrankungen überrollte Deutschland nach Auslaufen der Corona-Maßnahmen. Die Produktion der Präparate lohnt sich für die Pharmaindustrie oft nicht mehr, zugleich sind Lieferketten aus dem Ausland immer noch gestört.

Apotheken dürfen dagegen eine Rezeptur nicht aus wirtschaftlichen Gründen ablehnen. Unter bestimmten Voraussetzungen können sie sogar auf Vorrat produzieren. „Defektur“ heißt das dann in der Fachsprache. „Wir stecken seit Pandemiebeginn, als wir verzweifelt versucht haben, noch irgendwoher Alkohol zur Desinfektionsmittel-Herstellung zu organisieren, quasi im Dauerkrisen- Modus“, sagt Scharpf. Und fügt nicht ohne Stolz an: „Wir haben seitdem aber gezeigt, dass wir die Bevölkerung selbst in schwierigen Zeiten gut versorgen können.“

Wie funktioniert die genaueste Überprüfung?

Agnes Niemietz hat inzwischen ihre Schutzkleidung angelegt, öffnet das neue Döschen Captopril und prüft den enthaltenen Wirkstoff. Einfach dem Hersteller glauben, dass da, wo Captopril draufsteht, auch das Richtige drin ist? Undenkbar! Niemietz gibt eine Prise auf einen Glasträger und legt ihn unter das Infrarotspektrometer. Das zeigt eine Art Fingerabdruck des durchleuchteten Materials. Auf dem Bildschirm des angeschlossenen Computers erscheinen zwei Kurven, die mit den Soll-Kurven für den Wirkstoff übereinstimmen – passt. So werden die meisten Grundstoffe überprüft, schnell und sehr genau.

Der kleine Raum in der Apotheke erinnert an eine Mischung aus üppig bestückter Einbauküche und Chemielabor: In der Ecke glänzt ein silberner Riesen-Wasserkocher, links davon stehen auf Regalbrettern Kapselhüllen in diversen Größen und Farben, rechts gibt es die eigens konstruierte Abfüllmaschine für Cremes, daneben surrt eine von drei Rührmaschinen. Agnes Niemietz stellt jetzt ein schwarzes Mini-Tellerchen auf eine Spezialwaage, die auf fünf Nachkommastellen genau misst. Mit einem winzigen Edelstahllöffel häuft sie genau 0,1 Gramm Kaliumsorbat auf und gibt es in ein Glasgefäß mit abgekochtem Wasser. Genauso routiniert wie behutsam passiert das mit Captopril und Ascorbinsäure.

Im Hintergrund reinigt eine alte Spülmaschine benutzte Gefäße, während gegenüber High-End-Technik rattert: Zwei Kapsel-Füllmaschinen – eine für flüssige, eine für pulverförmige Inhalte. Eine der Maschinen kann auf fünf Mikrogramm genau Kapseln befüllen. „Das ist eine Spinnerei von uns“, sagt Franziska Scharpf lachend. „Die wollten wir unbedingt haben und setzen sie jetzt viel für Kinder-Medikamente ein, weil sie so genau ist.“

Wie werden die Medikamente hergestellt?

Die „Spinnerei“ nimmt die Apothekerin sehr ernst. Schon als Kind stand sie hier unten und half, Tees zu mischen. Nach der Schule machte sie zunächst eine Ausbildung zur PTA. Danach folgte das Pharmaziestudium. Heute leitet sie die Apotheke, die ihre Eltern vor 45 Jahren gegründet haben, gemeinsam mit ihrem Bruder.

Unterdessen hat Agnes Niemietz die Wirkstoffe für den kleinen Herzpatienten mit einem Glasstab im Wasser verrührt und die Flüssigkeit mit einer Pipette Tropfen für Tropfen auf 100 Gramm ergänzt. Sie füllt die Lösung in eine braune Glasflasche. Dann wird am PC noch das Herstellungsprotokoll ausgefüllt, das gleich mitsamt Aufkleber für die Flasche aus dem Drucker kommt. Die Familie erhält noch eine passende Dosierspritze dazu. Nach einer halben Stunde ist die Arznei fertig.

Apothekerin Scharpf kommt zur Endabnahme in die Rezeptur. Sie kontrolliert Protokoll, Etikett, Zubehör und gibt das Fläschchen frei. 1,1 Milliliter wird der Junge dreimal täglich von dem Medikament bekommen, eine winzige Menge für einen kleinen Menschen. Aber die Bedeutung der Rezeptur – sie könnte kaum größer sein.


Quellen:

  • ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. : Rezepturarzneimittel. Online: https://www.abda.de/... (Abgerufen am 19.04.2023)
  • ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e. V. : Versorgungsleistungen der Apotheke. Rezepturen. . Online: https://www.abda.de/... (Abgerufen am 19.04.2023)
  • ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e.V.: Versorgungsleistungen der Apotheke. Standardrezepturen. . Online: https://www.abda.de/... (Abgerufen am 19.04.2023)
  • Mediengruppe Deutscher Apotheker GmbH : Über uns - DAC/NRF Kurzportrait. Online: https://dacnrf.pharmazeutische-zeitung.de/... (Abgerufen am 19.04.2023)