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Häufigkeit

In der Pubertät und als junge Erwachsene erkranken Frauen mit Typ-1-Diabetes fast doppelt so häufig an einer Essstörung wie ihre Altersgenossinnen ohne Zuckerstoffwechselstörung. Vor allem Bulimie, die Ess-Brech-Sucht, kommt bei jungen Frauen mit Diabetes Typ 1 überdurchschnittlich oft vor. Dagegen ist die Magersucht (Anorexie) bei Diabetikern nicht häufiger als bei Stoffwechsel-Gesunden. Mindestens 90 Prozent aller Diabetes-Patienten mit Ess-Brech-Sucht oder Magersucht sind Frauen.

Etwas anders ist das Geschlechterverhältnis bei der Binge-Eating-Störung, bei der Betroffene  während einer Heißhungerattacke unkontrolliert sehr große Mengen Essen  verdrücken. Hier ist mindestens jeder dritte Patient ein Mann.  Binge-Eating ist insgesamt die häufigste Essstörung bei Diabetes und  betrifft vor allem übergewichtige Menschen mit Typ-2-Diabetes. Ein  Binge-Eating-Problem entwickelt sich oft in einem Alter jenseits der 30.

 Einflüsse des Diabetes

Eine Essstörung ist eine psychische Erkrankung. Wie bei allen psychischen Leiden kommen mehrere Faktoren zusammen, aus denen sich die Krankheit entwickelt. Eine genetische Veranlagung wirkt möglicherweise mit persönlichen Faktoren zusammen.

Das schlanke Schönheitsideal sowie tatsächliche oder vermeintliche gesellschaftliche Erwartungen können dazu beitragen, dass anfällige Personen ihren Körper falsch wahrnehmen und sich beispielsweise zu dick vorkommen, obwohl sie schlank sind.

Wer Diabetes hat, muss sich wegen dieser Krankheit intensiver mit dem Thema Ernährung auseinandersetzen und sollte sein Gewicht im Normalbereich halten, um die Blutzuckerwerte zu verbessern und damit das Risiko für Folgeerkrankungen zu minimieren. Womöglich trägt das etwas zur erhöhten Anfälligkeit für manche Essstörungen bei Diabetes bei.

Grundsätzlich liegt das Problem jedoch nicht beim Essen oder beim Gewicht. Eine krankhafte Ernährung ist nur der Kanal, über den sich ein seelisches Problem einen Weg bahnt. Essstörungen hängen meist mit einem niedrigen Selbstwertgefühl zusammen. Vielleicht machen junge Patienten mit Diabetes mehr Erfahrungen, die sie als verletzend oder beschämend empfinden, so dass sie sich selbst ablehnen.

Gefährliche Folgen

Insbesondere die Magersucht ist selbst für Menschen ohne Stoffwechselerkrankung eine Gefahr. Bei einem kleinen Teil der Erkrankten bessert sich der Zustand trotz intensiver Behandlung nicht. Sie magern so sehr ab, dass sie sterben. Andere erleiden durch eine lange andauernde Unterernährung bleibende gesundheitliche Schäden. Erkrankt ein Mensch mit Diabetes an Anorexie, wächst das Risiko für dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen ebenso wie das Sterberisiko noch einmal diabetesbedingt.

Bei Typ-1-Diabetikern wirken sich Essstörungen oft unmittelbar auf den Zuckerstoffwechsel aus: Der Diabetes entgleist kurzfristig viel häufiger und ist auch längerfristig oft schlecht eingestellt. Darum erleiden diese Patienten vermehrt Komplikationen.

Die erhöhten Blutzuckerwerte schädigen unter anderem die kleinen Blutgefäße. Nachgewiesene Folgen von jahrelang gestörtem Essen sind bei Diabetikern unter anderem Retinopathie, Nephropathie oder ein diabetisches Fußsyndrom.

Auch beim Binge-Eating, das öfter bei Diabetes Typ 2 vorkommt, sind Auswirkungen auf den Diabetes und seine Folgeerkrankungen möglich. Insgesamt läuft bei essgestörten Diabetes-Patienten die Diabetes-Therapie oft nicht optimal, weil sie zum Beispiel ihren Zucker schlechter überwachen. Wegen der vielen erhöhten Risiken muss eine Essstörung bei Diabetes immer behandelt werden.

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Magersucht

Charakteristisch für Magersucht, auch Anorexia nervosa oder Anorexie genannt, ist die absichtlich gesteuerte Gewichtsabnahme. Betroffene wollen um jeden Preis mehr als dünn sein. Ein objektiv normales Körpergewicht betrachten sie für sich selbst als inakzeptabel. Sie haben Angst, dick zu werden und nehmen sich selbst dann noch als fett wahr, wenn sie in Wahrheit spindeldürr sind. Bei Kindern und Jugendlichen kann sich eine Magersucht auch darin äußern, dass sie nicht altersüblich zunehmen. Das körperliche Zeichen für eine Magersucht ist ein Gewicht mindestens 15 Prozent unter dem altersgerechten Normalgewicht.

Erkrankte tun alles, um nicht ein Gramm über dem ungesund niedrigen Gewicht zu wiegen, das sie sich zugestehen: Sie essen kaum etwas, erlauben sich nur bestimmte Lebensmittel, erbrechen, schlucken Abführmittel, Appetitzügler und andere Medikamente oder treiben extrem viel Sport. Betroffene Typ-1-Diabetiker betreiben fast immer auch Insulin Purging (siehe unten).

Die Essstörung geht oft mit Depressionen einher

Die Erkrankung beginnt meist zwischen dem 10. und dem 25. Lebensjahr und trifft zu über 90 Prozent Mädchen und Frauen. Viele leiden zusätzlich an Depressionen, Angststörungen oder Zwangserkrankungen. Durch Magersucht steigt das Risiko für diabetische Folgeerkrankungen dramatisch. Auch akute, sehr gefährliche Stoffwechselentgleisungen nehmen zu. Magersucht bei Diabetes ist eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung, die schnellstmöglich behandelt werden muss.

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Insulin Purging

Beim Insulin Purging verzichten Diabetiker bewusst darauf, sich Insulin zu spritzen oder sie reduzieren absichtlich die Dosis. Ohne das lebenswichtige Hormon kann ihr Körper den Zucker aus der Nahrung nicht aufnehmen. Er wird mit dem Urin ausgeschieden. Über dieses "Erbrechen über die Niere" hoffen die Betroffenen Gewicht zu verlieren.

Relativ viele junge Typ-1-Diabetiker probieren das Insulin Purging zeitweise aus, ohne dass sich daraus eine behandlungsbedürftige Störung entwickelt. Sie testen Grenzen und machen Erfahrungen, die in der Pubertät und Jugend normal sind – ein bisschen vergleichbar dem ersten Alkoholrausch oder dem Ausprobieren von Zigaretten. Insofern ist einmaliges Insulin Purging erst einmal nicht krankhaft. Das ändert sich jedoch, wenn Diabetiker ihre Therapie immer wieder so manipulieren.

Wie sollten Eltern auf Insulin Purging reagieren?

Eltern, die dieses Verhalten bei ihren Kindern bemerken, sollten diese ansprechen, auf die Gefahren aufmerksam machen und den Kindern Wege aufzeigen, wie sie gesund mit dem Diabetes, ihrem sich verändernden Körper und ihren eventuellen Selbstzweifeln umgehen.

Das klärende Gespräch ist wichtig, denn durch die Insulin-Manipulation steigt die Gefahr für akute, schwere Blutzuckerentgleisungen (Ketoazidosen), die im schlimmsten Fall lebensbedrohlich sind. Längerfristig riskieren die Betroffenen unumkehrbare Schäden an Nerven, Nieren und Blutgefäßen.

Eltern sollten ihren Kindern klar machen, dass sie zwar verstehen, dass diese den Insulin-Verzicht ausprobieren, aber auch, dass dieses Verhalten nicht hinnehmbar ist. Es ist wichtig zu wissen, warum das Kind mit seiner Therapie experimentiert: Geht es nur ums Ausprobieren? Macht sich das Kind echte Sorgen um seine Figur? Ist es unzufrieden mit sich oder fühlt sich unsicher, womöglich sogar minderwertig? Im Zweifel können Psychologen beraten und helfen.

Erfahrungsbericht einer jungen Frau

Essstörung Bulimie ? vor allem Mädchen sind gefährdet

Bulimie (Bulimia nervosa)

Die Bulimie zählt zu den Essstörungen. Typisches Symptom sind wiederkehrende, unkontrollierbare Essanfälle, gefolgt von absichtlichem Erbrechen. Mehr zu Ursachen, möglichen Folgen und der Behandlung zum Artikel

Bulimie

Der medizinische Begriff lautet Bulimia nervosa. Sie ist auch als Bulimie oder als Ess-Brechsucht bekannt. Kennzeichnend ist vor allem die andauernde Beschäftigung mit dem Thema Essen, kombiniert mit einer ständigen Gier nach Nahrungsmitteln und dem Versuch, aufgenommene Kalorien wieder loszuwerden. Die Patientinnen erleiden immer wieder regelrechte Fressanfälle, bei denen sie ihn kurzer Zeit große Mengen vertilgen. Aus Angst, zuzunehmen, erbrechen sie das Essen bald wieder oder nehmen Abführmittel in hohen Dosen ein. Ziel ist es, das Gewicht zu halten, weil die Patientinnen ihren Selbstwert oft übermäßig an ihrer Figur festmachen.

Bulimie entwickelt sich ähnlich früh wie Anorexie. Sie kommt bei Mädchen und jungen Frauen mit Typ-1-Diabetes deutlich häufiger vor als bei Stoffwechselgesunden. Die Patientinnen stehen oft zunächst an der Schwelle zur Magersucht, entwickeln dann aber eine Essstörung bei einigermaßen normalem Gewicht. Für den Diabetes ist Ess-Brech-Sucht sehr ungünstig: Betroffene haben ihre Blutzuckerwerte schlechter unter Kontrolle, das Risiko für Folgeerkrankungen wächst und ebenso das Sterberisiko. Insgesamt hat Bulimie als Essstörung in den letzten Jahren zugenommen.

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Binge-Eating

Der Begriff  "Binge Eeating" steht für unkontrollierte Essanfälle, bei denen Betroffene – unabhängig von Hunger – enorme Mengen an Nahrung und manchmal auch Getränken konsumieren. Anders als bei der Bulimie behalten sie das Essen bei sich.

Binge-Eater sind oft übergewichtig oder fettleibig. Die Betroffenen – die Mehrheit davon sind Frauen – leiden meist unter einem geringen Selbstwertgefühl, waren oft schon in der Jugend unzufrieden mit ihrem Körper und haben meist eine lange Geschichte von gescheiterten Diätversuchen hinter sich. Typisch für die Essstörung ist, dass die Patienten sich bei der Nahrungsaufnahme eine Zeitlang sehr einschränken. Sie halten diese Selbstkontrolle aber nicht durch, was immer wieder zu Essanfällen und anschließenden Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen führt.

Die Erkrankung tritt meist im Alter von 20 bis 30 Jahren auf und betrifft überwiegend Typ-2-Diabetiker.

Warnzeichen

Obwohl es ganz unterschiedliche Essstörungen gibt, existieren einige generelle Alarmsignale, etwa die ständige übermäßige Beschäftigung mit dem Essen, dem Gewicht und der Figur. Junge Menschen mit Diabetes diskutieren dann zum Beispiel häufiger über Kalorien und/oder Kohlenhydrate, die sie zu sich nehmen sollen. Andere lassen Mahlzeiten aus oder essen nur noch bestimmte Lebensmittel. Wieder andere haben auffällig oft Verdauungsstörungen wie Durchfall.

Auch innere Konflikte sind jungen Betroffenen oft anzumerken, sobald die Eltern sich eingehender mit dem Gefühlsleben des Kindes auseinandersetzen. Die Patienten selbst sprechen fast nie über ihre Erkrankung oder versuchen sie möglichst lange zu verheimlichen. Daher ist es wichtig, dass Angehörige verstärkt auf Anzeichen achten.

Schwankendes Körpergewicht oder auch rätselhaft schwankende Zuckerwerte sowie häufige Unter- oder Überzuckerungen können bei Diabetes Hinweise auf eine Essstörung sein, ebenso wie erhöhte Langzeitzuckerwerte (HbA1c), die sich nicht mit der Diabetestherapie erklären lassen. Auch wenn Jugendliche ihren Blutzucker nur selten messen oder mehrere Messgeräte dafür benutzen, sollten Eltern und Behandler nachforschen. Mit solchen Strategien versuchen Betroffene, Einflüsse der Essstörung auf die Zuckerwerte zu verschleiern, die zum Beispiel bei einer kontinuierlichen Glukosemessung schnell auffallen.

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Unterstützung durch die Eltern

Der Übergang von phasenweise auffälligem Essverhalten zu einer behandlungsbedürftigen Essstörung verläuft oft schleichend. Eltern sollten daher früh wachsam sein und erste Probleme offen ansprechen, ohne die Situation zu dramatisieren oder zu beschönigen. Ziel ist es, herauszufinden, welche tieferliegende Funktion das ungewöhnliche Essverhalten und die Beschäftigung mit dem Gewicht erfüllt. Versucht ein Kind, Probleme auszugleichen, indem es etwa, wenn es Frust oder Stress erlebt, sehr viel isst oder sich besonders begrenzt? Versucht es, optisch zu gefallen, weil es sich sonst entwertet fühlt?

Solange eine Essstörung sich noch nicht festgesetzt hat, können Eltern – manchmal mit einem Psychologen oder einem Diabetesberater im Hintergrund – einiges dafür tun, dass ihr Kind diese heikle Phase eigenständig überwindet. Eine Maßnahme kann es zum Beispiel sein, Kindern Strategien zu vermitteln, wie sie mit frustrierenden Erlebnissen besser umgehen. Genauso wichtig ist eine gute Diabetes-Schulung. Die jungen Patienten sollen erkennen, dass sie sich trotz ihrer Erkrankung persönlich entfalten können.

Kommen Eltern alleine nicht weiter und bessert sich ein auffälliges Essverhalten nicht rasch, sollten sie sich an einen Psycholgoen wenden, der sich zugleich mit Diabetes gut auskennt. Hier kann das Diabetesteam oder der Hausarzt weiterhelfen. Um festzustellen, ob eine krankhafte Essstörung vorliegt, muss der Experte den Lebensweg seines Patienten erkunden. Allein anhand von körperlichen Symptomen, etwa einem niedrigen Gewicht, lässt sich eine Essstörung nicht diagnostizieren. Verschiedene standardisierte Fragebögen erleichtern die Einschätzung.

Therapie

Eine ambulante Psychotherapie ist als Therapie die erste Wahl. In dieser Hinsicht werden Betroffene mit Diabetes genauso behandelt wie Patienten ohne Zuckerkrankheit. Allerdings bergen Essstörungen bei Diabetes einige besondere gesundheitliche Risiken und beeinflussen auch das Blutzucker-Management. Darum sollte sich ein diabetologisch geschulter Psychologe oder Psychotherapeut um Diabetiker mit Essstörungen – und ihre Familien – kümmern.

Bringt eine ambulante Therapie keinen Fortschritt, kommt eine mehrwöchige oder mehrmonatige stationäre Behandlung in einer psychosomatischen Klinik infrage. Es gibt jedoch nur wenige Einrichtungen, die für die sehr speziellen Erfordernisse von Patienten mit Diabetes ausgelegt sind. Besonders Magersucht ist schon ohne Diabetes manchmal schwer zu bessern. Einige Patienten sind so massiv psychisch erkrankt, dass sie die Hilfen, die ihnen eine Therapie bietet, nicht annehmen können. Diabetiker manipulieren dann etwa ihre Insulintherapie, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden. Auch ist die Rückfallgefahr bei Magersucht besonders groß. Die Auswahl einer Klinik sollte daher in enger Absprache mit dem Psychologen und Diabetologen erfolgen.

Wie finde ich spezialisierte Psychologen und Psychotherapeuten?

Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) führt eine Liste mit Psychotherapeuten, die sich auf die Fachrichtung Diabetologie spezialisiert haben.

Prognose

Wer einmal Probleme mit Alkohol hatte, kann ihn für den Rest des Lebens meiden. Anders ist das beim Essen: Es ist lebensnotwendig, deshalb müssen Menschen mit einer Essstörung zu einem normalen Umgang zurückfinden. Dabei müssen Diabetiker nichts Spezielles beachten. Allerdings sollte schon bei der Behandlung der Essstörung Wert darauf gelegt werden, auch eventuelle inneren Probleme zu lösen, die durch die Stoffwechselerkrankung ausgelöst sind. Beispielsweise kann Diabetes das Gefühl von Hilflosigkeit und Kontrollverlust verursachen. Das Risiko für eine Depression ist erhöht. Solche Aspekte sollte die Psychotherapie einbeziehen und lösen.

Besonders wichtig ist eine gute Ernährungsschulung. Viele Diabetiker glauben fälschlich, sie müssten sich wegen ihrer Erkrankung einschränken. Dabei ist normales Essen möglich – man muss es nur gut auf den Diabetes abstimmen. Nicht zuletzt ist eine optimale Diabetestherapie ein wichtiger Baustein, um nach einer Essstörung langfristig gut zurecht zu kommen. Eine optimal angepasste Auswahl der Diabetesmedikamente erleichtert es, ein gesundes Gewicht zu erreichen und zu halten. Auch Bewegungsprogramme und Entspannungsmethoden können dabei unterstützen.

Beratender Experte

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Prof. Bernhard Kulzer ist Psychologischer Psychotherapeut sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeut und Fachpsychologe für Diabetologie der DDG. Der leitende Psychologe des Diabetes-Zentrums in Bad Mergentheim ist spezialisiert auf die Therapie von Diabetespatienten mit psychosozialen Problemen und/oder psychischen Erkrankungen. Als Wissenschaftler entwickelt er unter anderem Schulungsprogramme.

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