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Die Entdeckung des Insulins

August 1922: Wenige Tage vor ihrem 15. Geburtstag war Elisabeth Hughes dem Tod nah. Seit mehr als drei Jahren litt die Tochter eines US-Politikers an Diabetes. Die Krankheit hatte sie bis aufs Skelett abmagern lassen. Nur noch rund 20 Kilo brachte das 1,50 Meter große Mädchen auf die Waage. Ihre letzte Hoffnung: ein neues Mittel aus Toronto. Sein Name: Insulin.

Obwohl die Symptome des Typ-1-Diabetes bereits in der Antike von Heilkundigen beschrieben worden waren, suchte man jahrhundertelang erfolglos nach einer Therapie. Egal, was die Ärzte probierten — Diäten, Heilkräuter, Opium — nichts half. Alle Patienten starben. Im Schnitt zwei Jahre nach der Diagnose. Zwar wusste die Fachwelt seit dem 19. Jahrhundert, dass Diabetes etwas mit der Bauchspeicheldrüse zu tun haben musste. Doch Versuche, aus tierischen Organen ein zuckersenkendes Mittel zu gewinnen, scheiterten, wurden abgebrochen oder nicht beachtet.

Alles änderte sich, als zwei kanadische Mediziner auf den Plan traten. Im Juli 1921 war es den jungen Forschern Frederick Banting und Charles Best in Toronto gelungen, Insulin aus der Bauchspeicheldrüse eines Hundes zu isolieren und die zuckersenkende Wirkung zu zeigen. Mithilfe des Biochemikers James Collip wurde schließlich ein besonders wirksamer und reiner Insulinextrakt hergestellt. Am 23. Januar 1922 bekam der 13-jährige Leonard Thompson als erster Diabetes-Patient eine Dosis davon gespritzt. Mit durchschlagendem Erfolg: Sein Blutzucker normalisierte sich über Nacht.

Als Elisabeths Mutter von dem neuen Mittel hörte, flehte sie Banting an, ihre Tochter zu behandeln. Der lehnte erst ab — er hatte kaum genug Insulin für seine bisherigen Patienten. Dann klappte es doch: Im August 1922 erhielt Elisabeth Hughes ihre erste Insulindosis — gerade noch rechtzeitig. Anders als viele Insulinpatienten der ersten Stunde erreichte Hughes ein hohes Alter. Sie starb 1981 im Alter von 73 Jahren. Noch älter wurde Teddy Ryder (siehe Fotos unten). Er erhielt als 5-Jähriger seine erste Dosis und lebte danach noch über 70 Jahre.

Lebensretter aus Toronto

Die Nachricht vom neuen Wundermittel aus Toronto verbreitete sich rasch. In aller Welt schöpften Eltern von Betroffenen Hoffnung. Das Forscherteam um Banting und Best wurde mit Anfragen überschüttet. Schnell war klar: Im eigenen Labor würde man nie genug Insulin herstellen können, um alle Patienten zu versorgen. 1923 entstand auf dem Gelände der Universität Toronto eine Insulinfabrik. Diese lieferte bald jede Woche 250 000 Einheiten Insulin — aus den Bauchspeicheldrüsen geschlachteter Schweine und Rinder. Als erstes Pharmaunternehmen wagte sich Eli Lilly an die industrielle Produktion. Endlich gab es ein Medikament, um das Leben diabeteskranker Kinder zu retten. Doch die Therapie war aus heutiger Sicht eine Tortur. Betroffene nutzten Spritzen aus Glas, die sie mehrmals in der Woche zerlegen, auskochen und mit Alkohol desinfizieren mussten. Die dicken Nadeln mussten regelmäßig nachgeschliffen werden.

Blutzucker konnte man damals nur in der Klinik messen. Die einzige Möglichkeit zur Selbstkontrolle war ein Urinzuckertest. Dafür wurde Urin in einem Reagenzglas mit einer Chemikalie vermischt und erhitzt. Verfärbte sich das Gebräu, bedeutete das: Zucker im Urin. Was lediglich zeigte, dass der Blutzucker seit der letzten Blasenentleerung zu hoch war. Viele Ärzte verordneten ihren Patienten seit der Entwicklung des Langzeitinsulins in den 1930er-Jahren nur noch ein oder zwei Insulin-Injektionen am Tag. Das erforderte feste Spritz- und Ess­­zeiten. Erst in den 1980er-Jahren kam man von dieser strikten Therapie wieder ab. Die Idee, dass Typ-1-Diabetiker sich selbstständiger behandeln können und sollen, setzte sich durch. Erstmals wurden Diabetesschulungen angeboten. Blutzuckermessgeräte für zu Hause erleichterten die Kontrolle.

Heute können Ärzte aus einer Vielzahl von Insulinen wählen und die Therapie individuell auf die Bedürfnisse der Patienten abstimmen. Moderne Technik (siehe nächstes Kapitel) erleichtert und verbessert die Therapie. Zwar lässt sich Typ-1-Diabetes immer noch nicht heilen, aber die Geschichte zeigt: Man soll die Hoffnung nie aufgeben.

Geschichte des Insulins

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insulin

Bis in die 1920er-Jahre
Typ-1-Diabetiker wurden mit rigorosen Diäten behandelt – doch letztlich war die Diagnose ein Todesurteil

1921
Den Forschern Frederick Banting und Charles Best gelingt es, Insulin aus Bauchspeicheldrüsen von Hunden zu extrahieren – am Institut von John Macleod in Toronto, Kanada

1922
Leonard Thompson, 13, wird im Januar als erster Patient mit Insulin behandelt (gewonnen aus Rinder-Bauchspeicheldrüsen)

1923
Banting erhält mit Mcleod für die Entdeckung des Insulins den Nobelpreis für Medizin. Im selben Jahr kommen erste kommerzielle Insuline auf den Markt

1936
Hans Christian Hagedorn entwickelt das erste Insulin mit Langzeitwirkung: NPH-Insulin. NPH (Neutrales Protamin Hagedorn) ist ein Eiweiß, das die Insulinwirkung verlängert

1955
Frederick Sanger veröffentlicht die chemische Struktur des Insulins nach 12 Jahren Forschungsarbeit

1982
Das erste gentechnisch hergestellte Insulin ist erhältlich. Dieses Humaninsulin hat die Struktur von menschlichem Insulin

1996
Das erste schnell wirkende Analoginsulin kommt auf den Markt. Es hat eine etwas andere Struktur als Humaninsulin und wirkt deshalb schneller und kürzer. So lassen sich Blutzuckeranstiege nach dem Essen besser abfangen

2000
Das erste lang wirkende Analoginsulin kommt auf den Markt. Es wirkt länger und gleichmäßiger als NPH-Insulin und kann so Blutzuckerschwankungen verringern

2021
Heute gibt es mehr als ein Dutzend Insuline und Mischungen mit verschiedenen Wirkprofilen. Forscher arbeiten an weiteren Insulinen, welche die Therapie noch einfacher und besser machen sollen

Mit smarter Technik in die Zukunft

Moderne Pens, Pumpen und Messgeräte erleichtern die Insulintherapie und helfen, die Zuckerwerte zu optimieren. Und die Geräte
werden immer schlauer.

Von diskret keine Spur. Die erste Insulinpumpe (siehe Foto oben links) war ein sperriger Rucksack. Genutzt wurde sie 1963 in einer Studie. Wer bereit war, die Apparatur zu schleppen, durfte sich über bessere Zuckerwerte freuen. Denn der Blutzucker wurde damit automatisch gemessen und reguliert. Je nachdem, ob er zu hoch oder zu tief lag, wurde entweder Insulin oder sein Gegenspieler Glukagon über einen Katheter in die Vene abgegeben. Die Methode war zwar nicht alltagstauglich. Ihr Erfinder legte damit aber den Grundstein für moderne Diabetestechniken.

Handliche Pumpen gibt es seit den 1980er-Jahren. Ärzte verordneten sie damals nur "schwierigen Fällen": Typ-1-Diabetikern, die auch mit der intensivierten Insulintherapie (ICT) ihre Werte absolut nicht in den Griff bekamen. Die ICT verdrängte in den 80er-Jahren die bis dahin übliche Therapie mit Langzeitinsulin. Bei Letzterer mussten Typ-1-Diabetiker feste Spritz- und Essenszeiten einhalten und täglich sechs bis acht Mahlzeiten mit festgelegter Kohlenhydratmenge essen.

Endlich mehr Freiraum!

Bei der ICT wird die Insulindosis zum Essen anhand von Blutzucker und Kohlenhydratmenge selbst angepasst. Dafür spritzt man kurz wirkendes Insulin. Lang wirkendes Insulin deckt den Grundbedarf ab. Möglich wurde die neue Therapie, weil es erstmals Geräte für die Blutzucker-Selbstkontrolle gab. In den 80ern kamen auch erste Insulinpens auf den Markt.

Heute nutzen die meisten Typ-1-Diabetiker in Deutschland die Vorteile der ICT und spritzen sich Insulin mit Pens. Rund 100 000 tragen eine Insulinpumpe. Moderne Pumpen sind kleiner als ein Handy. Sie geben rund um die Uhr kleine Mengen schnell wirkendes Insulin über einen dünnen Schlauch und eine Kanüle unter die Haut ab. Die Rate wird individuell programmiert. Zum Essen ruft man Extrainsulin ab. Eine Alternative sind Patch-Pumpen (Patch: engl. = Pflaster). Diese werden auf die Haut geklebt und per Fernbedienung gesteuert. Manche Pumpen arbeiten mit einem Sensor zusammen, der ständig den Zucker misst. Droht ein Tief, stoppt die Insulinabgabe vorübergehend.

Pumpen mit Köpfchen

Noch cleverer sind halb automatische Pumpen. Diese steigern, drosseln oder unterbrechen die Insulingabe anhand der vom Sensor gemessenen Werte. Das erste System dieser Art kam 2019 in Deutschland auf den Markt. "Inzwischen gibt es einen Nachfolger, der auch mit dem Handy kommuniziert, und weitere vergleichbare Systeme", sagt Sandra Schlüter, Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft.

Halbautomaten heißen die Geräte, weil sie noch Eingaben benötigen. Damit die Pumpe zum Essen die passende Insulinmenge abgibt, muss der Nutzer ihr die Kohlenhydratmenge mitteilen. Oder, je nach System, die Portionsgröße (klein, mittel oder groß). Ohne diese Information würde die Pumpe erst Insulin abgeben, wenn der Zucker durch das Essen in die Höhe schießt. Also zu spät. Selbst moderne Turboinsuline kommen nicht rasch genug ins Blut, um den Anstieg abzufangen — ein Grund, weswegen es noch keine vollautomatischen Pumpen gibt.

Typ-1-Diabetiker, die sich für die neuen Systeme interessieren, sollten sich vom Diabetologen beraten lassen. Und auf ein aufwendiges Antragsverfahren einstellen. Die Kassen zahlen Pumpe und Sensor nur in bestimmten Fällen. "Zudem müssen beide einzeln beantragt werden", sagt Schlüter.

Schlaue Pens

Nicht jeder möchte immer Technik am Körper haben und verabreicht sich Insulin lieber mit Pens. Auch die werden schlauer. Smartpens speichern die gespritzten Insulinmengen mit Datum und Uhrzeit. Die Daten lassen sich etwa ans Handy übertragen und mit Daten aus Messgeräten bündeln. Entwickelt werden zudem Aufsätze, die normale Pens in Smartpens verwandeln. Und Pens, die mit einem Sensor kommunizieren und etwa dabei helfen, die Insulindosis zu ermitteln.

Daneben tüfteln die Firmen an neuen Insulinen. Mehr dazu im Interview unten.

Prof. Dr. Thomas Forst  ist Diabetologe und medizinischer Direktor an einem privaten Forschungsinstitut in Mannheim

Prof. Dr. Thomas Forst ist Diabetologe und medizinischer Direktor an einem privaten Forschungsinstitut in Mannheim

Interview: Insuline, die mitdenken

Wie sollen neue Insuline die Diabetestherapie verbessern?

Ein wichtiges Ziel ist es, das Unterzucker-Risiko zu senken. Gelingen könnte das etwa mit Smartinsulinen, an denen einige Firmen arbeiten. Diese "schlauen" Insuline werden wie andere Insuline unter die Haut gespritzt. Sie wirken aber nur, wenn der Blutzucker steigt.

Wie funktioniert das?

Das Insulin wird an eine Trägersubstanz gekoppelt, meist ein anderes Eiweiß. Steigt die Zuckerkonzen­tration im Unterhautfettgewebe, löst sich Insulin aus der Kopplung. Es gelangt aus dem Gewebe ins Blut. Entwickelt werden auch Pflaster, die das Smart-Insulin über feine Nädelchen in die Haut befördern. In fünf Jahren könnten die ersten Insuline dieser Art auf den Markt kommen.

Wird es irgendwann auch eine Insulintablette geben?

Ein Insulin zum Schlucken wurde vor wenigen Jahren entwickelt. Weil es zu teuer gewesen wäre, ist es nie auf den Markt gekommen. Forscher arbeiten weiter daran und haben verschiedene Strategien, um Insulin ins Blut zu bringen.

Zum Beispiel?

Eine internationale Forschergruppe hat das Insulin zwischen Schichten aus Nanopartikeln gepackt. Erste Versuche zeigten, dass das Insulin unbeschadet durch den Verdauungstrakt gelangt. Zudem wird es aus den Partikeln nur freigesetzt, wenn der Blutzucker steigt. Es handelt sich also um ein orales Smartinsulin.

So viel Aufwand, um nicht spritzen zu müssen …

Orales Insulin hat noch einen weiteren Vorteil: Es gelangt wie körpereigenes Insulin aus dem Blut zuerst zur Leber. Durch die natürlichere Insulinwirkung erhofft man sich stabilere Blutzuckerwerte und eine geringere Gewichtszunahme.

Welche Insuline fehlen noch?

Für vollautomatische Insulinpumpen bräuchte man noch schnellere Insuline. Damit könnte die Pumpe den Zuckeranstieg nach dem Essen selbstständig abfangen. Bisher muss der Nutzer hier noch eingreifen.

Welche neuen Insuline kommen bald auf den Markt?

Vermutlich ein Langzeitinsulin, das wöchentlich gespritzt wird. Es wird derzeit in einer großen Studie getestet.

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