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Sie extrahieren, destillieren, dampfen ein, schäumen auf, emulgieren, pulverisieren, färben. Sie entziehen Inhaltsstoffe, fügen neue hinzu: Die Macher der Lebensmittelindustrie haben längst die Nahrung neu erfunden. Manche Esskompositionen haben mit den Rohkostzutaten nur noch wenig gemein. Und sie enthalten Substanzen, die in der natürlichen Ernährung niemals vorkommen. Für die Gesundheit ist das alles wohl nicht gut, dazu später.

Hochverarbeitete Lebensmittel werden günstig produziert

Hochverarbeitete Lebensmittel sind mittlerweile nicht mehr die Ausnahme in unseren Speiseplänen. Dazu zählen etwa die Tiefkühlpizza und Süßigkeiten, aber auch vordergründig Unverdächtiges wie viele industriell hergestellte Brote. In die Bestandteile zerlegen und neu zusammenmischen, so lautet das Arbeitsprinzip. Die Industrie kann durch billige Zutaten wie etwa Glukose-Fruktose-Sirup, der aus Mais oder Weizen gewonnen wird, Kosten sparen.

Studie: Risiko für Erkrankungen steigt durch hochverarbeitete Lebensmittel

Laut einer Metaanalyse, die Ende Februar 2024 im Fachmagazin „The BMJ“ veröffentlicht wurde, gibt es nicht nur Zusammenhänge zwischen der Menge an hochverarbeiteten Lebensmitteln, die verzehrt wird und damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken: Allein das Essen von Fertiggerichten und Co. genügt, um das Risiko an einer Herzkreislauf-Erkrankung zu sterben und das Risiko an Diabetes Typ 2, Angststörungen und allgemeinen psychischen Störungen zu erkranken, signifikant zu erhöhen. Insgesamt untersuchten die Forschenden die Zusammenhänge zwischen dem Verzehr hochverarbeiteter Nahrungsmittel und 32 gesundheitsschädlichen Folgen. Nur für die vier oben genannten gibt es jedoch handfeste Belege. Für die bislang größte Untersuchung dieser Art wurden Daten von mehr als 10 Millionen Menschen weltweit ausgewertet.

Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist das bequem: Die Produkte sind verzehrfertig oder müssen nur zusammengerührt, kurz gekocht oder in den Backofen geschoben werden. Sie sind oft billiger als frisch Zubereitetes, sie sparen Zeit und Mühe – und sie sind für die meisten Gaumen schmackhaft. Dem Joghurt wird durch reichlich Zucker die Säure genommen. Die „Fressformel“, eine bestimmte Mischung aus Fett und Kohlenhydraten, sorgt dafür, dass die Chipstüte schnell leer wird.

Verarbeitungsgrad am NOVA-Score erkennen

Doch wie genau lässt sich definieren, was ein hochverarbeitetes Lebensmittel ist? Hier kommt Carlos Monteiro ins Spiel. Der brasilianische Ernährungsmediziner entwickelte 2009 ein dreistufiges, später auf vier Stufen erweitertes System, das die Nahrung nach ihrem Verarbeitungsgrad einteilt. Dieser „NOVA-Score“ reicht von gar nicht oder minimal verarbeiteten Mahlzeiten bis zu hochverarbeiteten Produkten.

Von roh bis Kunstmixtur

Der „NOVA-Score“ teilt Lebensmittel nach ihrem Verarbeitungsgrad ein. Manches daran ist strittig.

Besonders aussagekräftig im Hinblick auf Gesundheitseffekte ist die Gruppe 4

Er hat allerdings auch Schwächen: So ist etwa Fleisch in der untersten Stufe eingruppiert. Zucker, wenn er nicht in Hochverarbeitetem steckt, in der zweiten Stufe. Mit beiden, so sagen es fast alle Ernährungsempfehlungen, sollte man jedoch sparsam umgehen. Als alleinige Diätempfehlung taugt das NOVA-System daher nicht. Es hilft aber, den Konsum hochverarbeiteter Produkte zu messen. Auf diese vierte Stufe beziehen sich fast alle Studien, die damit verbundene Gesundheitseffekte untersuchen.

Hinweise auf Gesundheitsschäden durch hochverarbeitete Lebensmittel

Solche Zusammenhänge scheint es viele zu geben. So ermittelte eine französische Forschergruppe, dass Menschen, die ein Drittel ihrer Ernährung auf dieser Stufe bestreiten, ein um 23 Prozent höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen haben als Teilnehmende, die nur die Hälfte davon zu sich nahmen. Um zwei Prozent soll das Risiko für Krebs je zehn Prozent Nahrungsanteil an Hochverarbeitetem steigen, so britische Forscherinnen und Forscher. Ähnliche Effekte zeigen sich in Studien für Diabetes, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Demenz und Depression. Sogar die Lebenserwartung soll deutlich sinken.

Freilich, sagt Dr. Stefan Kabisch, Stoffwechselforscher an der Charité Universitätsmedizin in Berlin, beruht hier vieles nur auf Beobachtungsstudien: „Dass hochverarbeitete Lebensmittel die Krankheiten verursachen, können solche Studien nicht beweisen.“ Anderes könnte mit hineinspielen, auch wenn Forschende versuchen, das zu berücksichtigen: Wer sich so ernährt, der raucht auch eher, bewegt sich meist weniger. Das kann die Ergebnisse verzerren. Deshalb sollte man auch mit den Zahlen vorsichtig sein, so Kabisch. „Sie überschätzen das Risiko eher“.

Viel Salz, viel Zucker, viel Fett

Vielleicht sollte man besser sagen: Hochverarbeitete Lebensmittel sind hochverdächtig, gesundheitliche Nachteile mit sich zu bringen. Das legen die durchweg übereinstimmenden Ergebnisse vieler Studien nahe. Doch wie lässt sich das erklären? Der offensichtlichste Grund ist die veränderte Zusammensetzung: viel Salz, das den Blutdruck steigen lassen kann – mit all den Folgen von Bluthochdruck.

Viel Zucker und gesättigte Fettsäuren, dafür wenig satt machende Ballaststoffe und Proteine. Das hat Folgen: „Der Blutzucker steigt besonders rasch an, in der Folge schüttet die Bauchspeicheldrüse viel Insulin aus, sodass der Blutzuckerspiegel rasch wieder sinkt“, erklärt Kabisch. Das erzeugt ein neues Hungersignal. Man isst die nächste Portion. Schon morgens fängt das an: Die meisten Frühstückscerealien bestehen aus zu viel Zucker, hat die Stiftung Warentest im Sommer 2023 gemessen – nämlich aus bis zu 37 Prozent.

„Wie hart oder weich die Nahrung ist, bestimmt mit, wie viel man davon isst“

Süßgetränke liefern nur „leere“ Kilokalorien

Hinzu kommt: so hoch verarbeitet, so hoch ist meist auch die Energiedichte. Dieselbe Gewichtsmenge davon liefert also mehr Kilokalorien als wenig oder nicht verarbeitete Nahrung. Entsprechend nimmt man mehr davon zu sich, um den Magen zu füllen. Besonders deutlich wird dies bei Süßgetränken: Limonaden, Cola oder reiner Fruchtsaft liefern viele Kalorien, ohne auch nur ein bisschen zu sättigen.

Eine weitere Erklärung nennt Anja Bosy-Westphal, Professorin für Humanernährung an der Uni Kiel und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin: die veränderte Textur hochverarbeiteter Lebensmittel. Der Fachbegriff besagt, wie hart oder weich, wie knusprig, knackig oder cremig ein Lebensmittel ist. „Man muss kauen, damit man satt wird“, erklärt Bosy-Westphal, „und man isst deshalb mehr von dem, was weich ist.“ Dabei wird ordentlich getrickst. Manche industriell hergestellten Brote werden als ballaststoffreich beworben. Aber nicht, weil sie aus vollem Schrot und Korn hergestellt wurden. Sondern weil ihnen, um sie schön soft zu halten, Weizenhalmfasern zugesetzt wurden. Zu Deutsch: zermahlenes Stroh.

Hochverarbeitetes steigert den Appetit

Die unterschiedliche Textur erklärt vielleicht auch das Ergebnis einer Studie, in der hochverarbeitete direkt mit unverarbeiteten Lebensmitteln verglichen wurden. Sie lief nur vier Wochen, umfasste lediglich 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Und war methodisch doch so gut gemacht, dass sie eine gewisse Aussagekraft besitzt. Jeweils zehn Menschen wurden einer der beiden Ernährungsformen zugeteilt, nach zwei Wochen wurde gewechselt.

Professorin Anja Bosy-Westphal ist Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin.

Professorin Anja Bosy-Westphal ist Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin.

Beide Nahrungen enthielten pro Gewichtsmenge genau gleich viele Kalorien und dieselbe Menge an Salz, Zucker und Ballaststoffen. Die Probandinnen und Probanden durften so viel essen, wie sie wollten. Doch von der hochverarbeiteten Nahrung nahmen sie täglich rund 500 Kilokalorien mehr zu sich, legten um 0,9 Kilogramm zu. Das spiegelte sich auch in der Messung von Appetithormonen wider. Wer Hochverarbeitetes aß, aß schneller – und damit zugleich mehr.

Es gibt noch andere mögliche Erklärungen für die Gesundheitswirkungen hochverarbeiteter Lebensmittel. Aus der Verpackung könnten mehr Substanzen auf den Inhalt übergehen. Bewiesen ist das nicht. Oder es entstehen Schadstoffe wie Transfette oder Acrylamid direkt bei der Verarbeitung.

Dabei muss man der Industrie zugestehen, dass sie dies zu vermeiden versucht. Weniger zaghaft handelt sie meist, was die Beimengung künstlicher Zusatzstoffe angeht. Rund 320 davon sind in der EU zu-gelassen, einsortiert in 27 Klassen von Süßstoffen über Emulgatoren, Geschmacksverstärkern bis hin zu Schaumverhütern. Manches davon mag sinnvoll sein, etwa für die Konservierung. Doch vieles scheint eher dazu zu dienen, den Appetit zu steigern. Wozu sonst wären Farbstoffe in manchem Käse nötig?

Prüfung der Zusatzstoffe durch Europäische Behörden

Die Zusatzstoffe wurden zwar alle von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) geprüft. Untersucht wird, wie viel wir davon aufnehmen, wie sie verstoffwechselt oder ausgeschieden werden, ob sie mit anderen Stoffen wechselwirken, ob sie krebserregend oder fruchtschädigend sind. Nicht aber, ob sie etwa zur Entstehung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen beitragen könnten, wie eine Studie nahelegt. „Das sind wissenschaftliche Fragestellungen, die in Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen bearbeitet werden müssen“, sagt Dr. Birgit Jähnig vom Bundeszentrum für Ernährung.

Wie viele Zusatzstoffe oder Verarbeitungsschritte prinzipiell unproblematisch sind oder wann die Grenze zur Schädlichkeit überschritten wird, ist schwierig zu untersuchen. Weil es eben nicht nur um einen einzelnen Wirkstoff geht, sondern um komplexe Nahrungsmittel. Aber vielleicht sind es auch eher die indirekten Effekte, aufgrund derer man eine lange Liste von Zusatzstoffen kritisch sehen sollte. Viele dienen dazu, Lebensmittel billiger, leichter essbar und schmackhafter zu machen. Und damit den Konsum zu steigern. Was übrigens auch für manche pflanzlichen Fleischersatzprodukte gilt.

Eigeninitiative ergreifen

„Verarbeitete Lebensmittel kann man nicht alle über einen Kamm scheren“, sagt Birgit Jähnig. „Da gibt es Produkte, die nur aus wenigen Zutaten bestehen, während andere eine lange Liste an Zutaten inklusive Zusatzstoffe haben.“ Für die Beurteilung helfe es nur, einen Blick auf die Verpackung zu werfen. Steht da zum Beispiel das gesündere Rapsöl drauf oder Kokosfett? Wichtig, so Jähnig, sind aber auch die Nährstoffangaben. Etwa, wie viel Zucker, gesättigte Fettsäuren oder Salz in absoluten Mengen drinstecken.

„Für die Beurteilung von Lebensmitteln hilft nur ein Blick auf die Zutatenliste“

Verarbeitete Lebensmittel zumindest ein bisschen gesünder zu machen – das wäre auch Aufgabe der Politik. Etwa über eine Zuckersteuer, die einige Länder schon haben. Deutschland traut sich nicht heran. Deshalb ist Eigeninitiative nötig. Ganz ohne verarbeitete Produkte geht es nicht immer. Anderes ist leichter umzusetzen – vor allem, indem man sich satt isst und auf das Nebenher-Naschen, etwa aus der Gummibärchen-Schale, verzichten kann. Oder indem man beim Fernsehen Nüsse statt Kartoffelchips knabbert. Wer sich so dis-ziplinieren kann, darf aber auch mal sündigen und muss nicht jede Eisdiele meiden.


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