Logo der Apotheken Umschau

Ein kleines angehängtes „in“, aber ein großer Aufreger. Gendern versetzt viele Menschen in Rage. Unnötig, unverständlich, ausschließend, so lautet die Kritik an genderfairer Sprache.

Zuletzt hatte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann das Gendern mit Sonderzeichen als „stark exkludierend“ bezeichnet – und unter anderem mit diesem Argument das Verbot des Gender-Sternchens und ähnlicher Formen in Verwaltungen, Schulen und Hochschulen des Freistaats begründet[1]. Grund genug, sich mit der psychologischen und sprachwissenschaftlichen Forschung zum Thema zu beschäftigen.

Wie wir im Alltag ständig gendern

Zunächst einmal: Wir gendern immer, wenn wir sprechen, selbst wenn wir keine *innen-Form verwenden. Beispielsweise sind Formen wie „der Pfleger“, „die Handwerkerin“ oder auch „Herr Müller“ eine gegenderte Form der Sprache, erklärt Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky, Lehrstuhlinhaberin für Genderwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Gendern beginnt nicht erst mit dem Sternchen, dem Unterstrich, wir gendern dauernd im Alltag.“ Seit ein paar Jahren gibt es in unserer Sprache neue Formen des Genderns: „Diese Formen können neu und ungewohnt erscheinen. Sie sind aber sehr sinnvoll“, sagt die Wissenschaftlerin.

Was ist genderinklusive Sprache?

Gendersensible oder -inklusive Sprache, umgangsprachlich auch „Gendern“ genannt, bezeichnet Sprache, die männliche, weibliche und diverse Geschlechtsidentitäten aktiv mitdenkt. Beispielsweise:

  • Leser und Leserinnen
  • Leser*innen
  • Leser:innen
  • Leser_innen

Beim Sprechen machen viele Menschen eine kleine Pause. Etwa: „Leser [Pause] innen“. Die Pause ist ähnlich wie beim „Spiegel[Pause]ei“.

Männliche Form lässt zuerst an Männer denken

Die deutsche Sprache deckt in der männlichen Form nicht alle Geschlechter ab. Beim generischen Maskulinum, also etwa der Form „Arbeiter“, sollen eigentlich alle mitgemeint sein, aber die Sprachwissenschaft und Psychologie konnte in verschiedenen Untersuchungen zeigen, dass das nicht funktioniert[2].

Schreibt man von „Bäckern“, denken statistisch mehr Menschen an Männer, unabhängig davon, ob damit andere Geschlechter auch gemeint sein sollen. Das nennt man „männliche Verzerrung“[3]. Verschiedene Studien zeichnen ein relativ klares Bild, dass Menschen in der deutschen Sprache beim generischen Maskulinum an Männer denken. Werden etwa Menschen aufgefordert, ihren Lieblingsmusiker zu nennen, zählen sie hauptsächlich männliche Musiker auf[4].

Genderfaire Sprache hat eine inkludierende Wirkung

Eine genderinklusive Sprache schließt auch Menschen ein, die im klassischen Mann-Frau-Sprachgebrauch nicht repräsentiert sind. Prof. Dr. Villa Braslavsky dazu: „Es gibt in unserem Alltag viele Menschen, die anatomisch, hormonell oder genital nicht in bestimmte Schemata von weiblich und männlich passen. Das ist keine feministische Theorie, sondern gesellschaftliche Realität.“

Gerade für Menschen, die Diskriminierung erfahren haben, ist die Repräsentation wichtig: „Das Gendern mit Sonderzeichen, etwa dem Stern oder Unterstrich ist die Andeutung von: Es gibt mehr Geschlechter als Männer oder Frauen. Die Sonderzeichen sprechen Menschen an, die anders leben und sich anders bezeichnen wollen oder müssen. Deshalb ist gendersensible Sprache besonders für jene Menschen wichtig, die in der Sprache sonst nicht vorkommen“, so Prof. Dr. Villa Braslavsky.

Sprache kann die Massenmeinung in Bezug auf LGBTQI*- (Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer und Intersex-)Menschen beeinflussen: Drei Studien konnten erheben, dass die Einführung eines genderneutralen Pronomens in Schweden unter anderem die Toleranz gegenüber schwulen, lesbischen oder bisexuellen Menschen sowie Trans*-Menschen erhöht hat[5]. In Deutschland wären ähnliche Effekte denkbar: „Sprache kann Sichtbarkeit schaffen für Menschen, die lange für ihre Repräsentation kämpfen mussten und das noch immer tun“, so die Expertin.

Sprache kann Sichtbarkeit schaffen für Menschen, die lange für ihre Repräsentation kämpfen mussten und das noch immer tun

Die Wissenschaft hat also Hinweise darauf, dass genderinklusive Sprache den Diskurs nicht verengt, sondern Räume öffnet für Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind. Diese Menschen erleben häufig Minderheitenstress, der sich auch in größeren körperlichen oder psychischen Problemen äußern kann[6]. Beispielsweise sind junge Trans*-Menschen in Deutschland einem fast sechsmal höheren Suizidrisiko ausgesetzt[7], LGBTQI*-Menschen leben in Deutschland mit Diskriminierung, Gewalterfahrungen und einer schlechteren psychischen und körperlichen Gesundheit[8]. LGBTQI*-Menschen sind beispielsweise dreimal häufiger von Depression und Burnout betroffen als der Rest der Bevölkerung[9].

Diese Menschen haben sich lange für Repräsentation in der Sprache eingesetzt. Forscherin Villa Braslavsky betont: „Was in der Diskussion oft vergessen wird, ist, dass Gruppen, Verbände und Personen seit Jahrzehnten für eine geschlechtergerechte Sprache kämpfen. Vor allem Menschen, die sich nicht einer bestimmten Geschlechtlichkeit zuordnen wollen. Das hat mit einer Verordnung „von denen da oben“ gar nichts zu tun.“

63555339_836044f226.IRWUBPROD_6DPI.jpg

Gendermedizin: Eine für jede:n

Männer und Frauen sind anders krank. Beim Herzinfarkt unterscheiden sich die Symptome deutlich. Warum eine gendersensible Medizin deshalb wichtig ist. zum Artikel

Genderinklusive Sprache macht Frauen sichtbarer

Frauen können sich von „männlich gegenderten“ Ausschreibungen weniger angesprochen fühlen und glauben, trotz guter Qualifikation den Anforderungen der Stelle nicht zu entsprechen. So fühlen sie sich beispielsweise weniger angesprochen, wenn in einem Förderprogramm ein „Unternehmer“ gesucht wird[10]. Wenn sich aber weniger Frauen auf eine Stelle bewerben, kann auch ein sehr auf Gleichberechtigung bedachtes Auswahlgremium nur schwer eine Frau einstellen.

Auch geschlechterinklusive Medienberichte können laut einer Studie zu einer verstärkten Sichtbarkeit von Frauen führen und die Teilnehmenden motivieren, geschlechtergerecht zu sprechen[11]. Wenn Frauen genderfair geschriebene Texte lesen, nutzen sie übrigens auch selbst eher eine gendergerechte Sprache – bei Männern stellt sich dieser Effekt allerdings nicht ein[12].

Mädchen trauen sich andere Berufe zu

Sprache kann einen großen Einfluss auf Kinder und ihr Weltbild haben. Früh werden Spielsachen, Kleidung oder Berufe für Mädchen oder Jungs festgelegt: Pink für die Mädchen, blau für die Jungen. In einer Untersuchung legten die Forscherinnen Kindern Jobbeschreibungen vor. Die Studie lieferte Hinweise auf zwei Aspekte: Erstens bewirkt geschlechtergerechte Sprache, dass auch Mädchen sich in klassischen Männerberufen sehen. Zweitens kann gendersensible Sprache das Selbstbewusstsein der Mädchen stärken, dass sie mindestens genauso kompetent und fähig sind, diesen Job zu machen[13]. Auch bei Jugendlichen gibt es Hinweise, dass gendersensible Sprache veraltete Stereotype abbauen kann[14].

Gendern versteht jeder

Verschiedene Untersuchungen haben eine genderfaire Sprache auch mit Sonderzeichen als verständlich einstufen können. Forscherinnen und Forscher haben beispielsweise das Textverständnis untersucht, beispielsweise in Nachrichtentexten[15], Schulbuchtexten[16], oder sogar Beipackzetteln[17].

Eine Studie hat getestet, ob es einen Unterschied in der Verständlichkeit macht, ob die Person eine akademische Ausbildung hat. Egal ob mit oder ohne akademischen Hintergrund war die Textverständlichkeit deutscher Texte durch Gendern nicht bedeutsam beeinflusst[18]. Die Leserinnen und Leser beurteilten lediglich bestimmte Formen als weniger verständlich beziehungsweise als weniger gut.

Das gilt offenbar auch für Sprache in Erklärfilmen: Eine gendergerechte Sprache beeinflusste nicht die Verständlichkeit einer Video-Vorlesung[19]. Den Vorwurf von Seiten der Gegner – gendersensible Sprache würde die Verständlichkeit des geschriebenen Worts beeinträchtigen – kann die Wissenschaft also nicht bestätigen. Es gibt nur Hinweise darauf, dass geschlechtergerechte Sprache in Texten verständlich lesbar ist. Allerdings ist bislang unklar, welche genderfaire Schreibweise in punkto Verständlichkeit am besten abschneidet.

Gendergerechter Sprache ist kein Allheilmittel

Villa Braslavsky weist allerdings darauf hin, dass es noch viel zu forschen gibt. So gebe es zur Ursache-Wirkungs-Beziehung von Sprache und Wirklichkeit unterschiedliche Befunde aus der Forschung. „Das bedeutet, dass wir noch mehr forschen müssen, wie stark die Verzerrung ist, wo sie wirkt und welche Auswirkungen gendergerechte Sprache in unterschiedlichen Kontexten hat.“

Zumal die Verbindung von Geschlecht und Stigmatisierung tief sitzt. Villa Braslavsky: „Genderinklusive Sprache ist nicht das magische Allheilmittel gegen alle Formen der Ungerechtigkeit und für Inklusion. Von einem Gender-Sternchen löst sich keine Gender Pay Gap auf, keine Care-Lücke oder sexistische Gewalt. Es ist aber ein wichtiges Element, um Gleichberechtigung und Inklusion sprachlich sichtbarer zu machen.“

Verschiedene Arbeiten weisen darauf hin, dass die Veränderung der Sprache Veränderungen in der Welt zumindest begünstigen kann[20]. Auch wenn gendergerechte Sprache kein Wundermittel ist: unnötig, unverständlich oder ausschließend ist sie aus wissenschaftlicher Sicht nicht.


Quellen:

  • [1] Jerabek P: Bayern beschließt Verbot von Gendersprache. BR 24: https://www.br.de/... (Abgerufen am 04.04.2024)
  • [2] Szcesny S, Formanowicz M, Moser F: Can Gender-Fair Language Reduce Gender Stereotyping and Discrimination?. Frontiers in Psychology: https://www.frontiersin.org/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [3]

    Stahlberg, D., Braun, F., Irmen, L., Sczesny, S. Representation of the sexes in language. In K. Fiedler (Ed.), Social communication. A volume in the series Frontiers of Social Psychology (pp. 163-187). (Series Editors:A. W. Kruglanski & J. P. Forgas). New York (2007): Psychology Press.

  • [4] Stahlberg D, Sczesny S, Braun F et al.: Name Your Favorite Musician: Effects of Masculine Generics and of their Alternatives in German. Journal of Language and Social Psychology: https://journals.sagepub.com/... (Abgerufen am 03.04.2024)
  • [5] Tavits M, Perez EO: Language influences mass opinion toward gender and LGBT equality. PNAS: https://www.pnas.org/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [6] Puckett JA, Tornello S, Mustanski B et al.: Gender variations, generational effects, and mental health of transgender people in relation to timing and status of gender identity milestones. Psychology of Sexual Orientation and Gender Diversity: https://psycnet.apa.org/... (Abgerufen am 03.04.2024)
  • [7] Door L: Von der Pandemie schwer getroffen, Hamburger Studie zu trans*­Men­schen. taz online: https://taz.de/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [8]

    Merz S, Graf N, Timmermanns S. „Wie geht’s euch?“ Psychosoziale Gesundheit und Wohbefinden von LSBTIQ*. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Forum Sexualaufklärung und Familienplanung - Forschung. Köln (2023): Schriftenreihe der BZgA. https://www.sexualaufklaerung.de/fileadmin/user_upload/02_FORUM/FORUM_deutsch/2023/Ausgabe_1/13329281.pdf#page=62

  • [9] Kasprowski D, Fischer M , Chen X et al.: Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen. DIW Wochenbericht: https://www.diw.de/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [10] Hentschel T, Horvath LK: Kick-Starting Female Careers: Attracting Women to Entrepreneurship Programs. Journal of Personnel Psychology: https://econtent.hogrefe.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [11] Hansen K, Littwitz C, Sczesny S: The Social Perception of Heroes and Murderers: Effects of Gender-Inclusive Language in Media Reports. Frontiers in Psychology: https://www.frontiersin.org/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [12] Koeser S, Kuhn EA, Sczesny S: Just Reading? How Gender-Fair Language Triggers Readers’ Use of Gender-Fair Forms. Journal of Language and Social Psychology: https://journals.sagepub.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [13] Vervecken D, Hannover B: Yes I Can! . Social Psychology: https://econtent.hogrefe.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [14] Vervecken D, Gygax PM, Gabriel U et al.: Warm-hearted businessmen, competitive housewives? Effects of gender-fair language on adolescents’ perceptions of occupations. Frontiers in Psychology: https://www.frontiersin.org/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [15] Blake C, Klimmt C: Geschlechtergerechte Formulierungen in Nachrichtentexten. Publizistik. Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [16] Pöschko H, Prieler V: Zur Verständlichkeit und Lesbarkeit von geschlechtergerecht formulierten Schulbuchtexten. Zeitschrift für Bildungsforschung: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [17] Braun F, Oelkers S, Rogalski K et al.: "Aus Gründen der Verständlichkeit ...": Der Einfluss generisch maskuliner und alternativer Personenbezeichnungen auf die kognitive Verarbeitung von Texten.. Psychologische Rundschau: https://econtent.hogrefe.com/... (Abgerufen am 03.04.2024)
  • [18] Borchers M: Geschlechterfaire Sprache: "Gendergaga" oder geboten?. Info Hämatologie + Onkologie: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [19] Friedrich MCG, Muselick J, Heise E: Does the use of Gender-Fair Language Impair the Comprehensibility of Video Lectures? – An Experiment Using an Authentic Video Lecture Manipulating Role Nouns in German. Psychology Learning & Teaching: https://journals.sagepub.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)
  • [20] Bailey AH, LaFrance M, Dovidlo JF: Is Man the Measure of All Things? A Social Cognitive Account of Androcentrism . Personality and Social Psychology Review: https://journals.sagepub.com/... (Abgerufen am 28.03.2024)